"Kaum aber hatte ich mein Glück begriffen [im Alter von dreizehn Jahren Dirigent zu werden], kaum begonnen, die erforderliche Erweiterung meiner Studien zu planen, als wiederum ein Erlebnis wie ein Blitz in meine Seele einschlug, zündete und mein Innenleben nun völlig revolutionierte. Tristan und Isolde war das Erlebnis, 'himmelhöchstes Weltentrücken' seine Folge und es ereignete sich so: Wie schon berichtet, herrschte im Konservatorium, im Elternhause und in den Kreisen, mit denen wir verkehrten, eine eingewurzelte Gegnerschaft gegen Wagner. (...) [Man sprach damals:] - kein kultiviertes Ohr könne solchen Lärm ertragen, und außerdem, fügte man leise hinzu, gäbe es noch etwas sehr Verruchtes, Unreines in Wagners Musik - aber das verstünde ich noch nicht. Nun, ich verstand sehr wohl, daß damit die Sinnlichkeit gemeint war und die fand ich interessant und gar nicht verrucht. Meine Position gegenüber den Wagnerschen Wort-Neubildungen war allerdings unsicher, mir gefielen sie eigentlich auch nicht [damit ist Wagala waia oder Hojotoho gemeint], doch mein Interesse für ihn war aufs höchste gestiegen, seinen Orchesterklang sehnte ich mich zu hören. Maßlosigkeit fand ich durchaus anziehend und so lehnte ich mich auf und erklärte zu Hause, jetzt wolle ich ein Werk von Wagner kennenlernen. Ich muß wohl damals schon selbst etwas Geld verdient haben, denn mein Vater hätte sicher nicht durch Ankauf eines Opernbillets zu meinen Seelenverderb beitragen wollen. Da saß ich nun auf der höchsten Galerie des Berliner Opernhauses, und vom ersten Einsatz der Celli an krampfte sich mir das Herz zusammen und der Zauber, gleich dem 'furchtbaren Trank', dem der todkranke Tristan im dritten Akt flucht, 'drang mir wütend vom Herz zum Hirn' - solche Ton- und Leidenschaftsfluten hatten mir noch nie die Seele bedrängt, solches Leiden, solche Sehnsucht noch nie das Herz verzehrt und solch hehre Seligkeit, solch himmlische Verklärung mich noch nie der Wirklichkeit entrückt. Ich fühlte mich nicht mehr auf der Welt, ich lief danach ziellos auf der Straße umher - als ich nach Hause kam, erzählte ich nichts und bat nur, mich nicht zu fragen. Meine Ekstase sang weiter in mir die halbe Nacht, und als ich am nächsten Morgen erwachte, wußte ich, daß mein Leben verändert war. Eine neue Epoche hatte begonnen: Wagner war mein Gott und ich wollte sein Prophet werden."

(Walter, Bruno 1960, S. 57-58)