"Wie oft habe ich unglaubliche, ja fassungslose Gesichter gesehen, wenn ich freimütig eingestand, daß ich seit meiner Jugend an Heufieber leide, und zwar in seinen allerschwersten Formen mit asthmatischen Begleiterscheinungen und schweren Bindehautentzündungen. Trotzdem habe ich in meiner langen Laufbahn wegen Heuschnupfens niemals ein Konzert oder eine Vorstellung abgesagt, obgleich wichtige Festspiele in den schweren Monate Juni und Juli fielen. (...) Mochte ich auch die ganze Nacht nach Luft ringend aufgesessen und dick verschwollen Augen haben - sobald ich das Podium oder die Bühne betrete, kann ich singen, als wenn mir gar nichts fehlte. Mögen eben noch die Kulissen unter einer ‚Niessalve' ‚gedröhnt' haben, kaum stehe ich wieder draußen, so kommt kein Niesreiz mehr, die sonst zugeschwollene Nase wird frei und der Atem steht wie er soll. Keine Spur von Einschränkung der Resonanz, ja, so paradox es klingen mag, die durch den Schnupfen stark angefeuchteten Stimmbänder funktionieren besser denn je. Wie oft habe ich die Brangäne bei den Münchener Festspielen im ersten Akt die Nase in mein Taschentuch gedrückt, wie oft habe ich mich leise hinausgeschlichen, wenn in den langen Gesangspausen der unerträgliche Kitzel wiederkehrte. Zwischen Brangänens beiden Rufen habe ich den Wachturm mehrmals zum Erzittern gebracht, wenn die Niesanfälle kamen."

Sigrid Onégin

(in Onégin/ Penzoldt, F. 1953, S. 262)