"Ein einst berühmter Tenor - dessen Name aus Diskretion verschwiegen sei - hatte nicht gerade den Ruf hoher Intelligenz. Aber er war, mit Recht, ein gefeiertes Mitglied der Berliner Oper. Eines Tages eröffnete ihm der Intendant, daß er ihn nun für reif genug erachte, den Tristan zu singen, die schwerste und längste Partie des Heldentenorfachs. Unser Künstler war nicht wenig beglückt; ein ganzes Jahr wollte der Intendant ihm Zeit lassen, die gefürchtete Rolle gut zu studieren. Das Jahr ging um und der Tenor war bereit. Der große Abend kam und das Theater war ausverkauft; keiner der Fans war Zuhause geblieben, freudig bereit, dem Liebling zuzujubeln. Der erste Akt verlief tadellos und die Verehrer suchten den Helden des Abends in der Garderobe auf: 'Großartig! nur so weiter!' Im zweiten Akt, dem langen Liebesduett, steigerte er sich noch. Wieder durften die Anhänger ihn in der Pause eine Minute begrüßen und einstimmig begeistert sagen, wie fabelhaft er gewesen sei. Der dritte, letzte Akt begann. Schwer verwundet liegt Tristan auf der Terrasse seiner heimatlichen, längst zerfallenen Burg, den Blick sehnsüchtig auf das weite Meer gerichtet, auf dem er seit Wochen das Auftauchen von Isoldes Schiff erwartet. Tage und Nächte vergehen in verzweifeltem Bangen. Endlich, endlich! Das Segel erscheint, nähert sich schnell. Wie es die Rolle vorschreibt, reißt Tristan sich die Verbände ab und stürzt mit letzter Kraft der Geliebten entgegen. Mit einem letzten langen Aufschrei 'Isolde!' soll er leblos zu ihren Füßen hinsinken. Er sank programmgemäß hin, aber der Aufschrei blieb aus. Alles ging weiter, dem tragischen Ende entgegen, Isoldes Liebestod. Ein Riesenerfolg, Jubel im ganzen Haus, Hervorrufe, Blumen. In die Garderobe stürmen die Fans:
'Wunderbar! Herrlich! Einmalig!' Der Tenor strahlte vor Glück. Einer seiner Anhänger wagte die Frage:
'Aber sagen Sie, Herr Kammersänger, warum haben Sie das letzte ‚lsolde!' nicht mehr gesungen?'
'Verdammt nochmal... mir ist doch der Name nicht mehr eingefallen...!"

Kurt Pahlen

(in Pahlen, K. Bern 1992, 14-5)