"Sicher, Gustav [Mahler], ich akzeptiere alles, was du zu deiner schöpferischen Arbeit sagst, zur Komposition. Ich pflichte dir bei, daß es ein besonderer Vorgang sein muß, der sich da im Halb- und Unterbewußten, im Psychischen abspielt. Weiter wage ich mich nicht zu äußern. Aber ich glaube doch, ein gutes Verhältnis zu deiner interpretatorischen Tätigkeit zu haben und es ausdrücken zu können. Denn nicht nur du stehst Ängste aus, ob der Einsatz ohne Brüche gelingt, ob der Orchesterklang transparent statt breiig oder Völlerei verdächtig kommt. Auch ich bange um die gestochenen Tonhöhen, um das Treffen der Nuance, die eine Phrase erfordert. Denn oft genug trägt eine einzige dieser die gesamte Partie. Und nichts weißt du über meine Nöte, das Stimmliche zu verbinden mit dem körperlichen Ausdruck, der Pose, dem Wechsel der Schritte, der Haltung des Körpers oder auch nur eines seiner Teile. Ich muß dir sagen: Eine Bühnengestalt zu verkörpern ist mehr, als nur Musik zu inszenieren. Es ist das Zusammenspiel von all diesem großen Schau-spiel, von der Rolle und vom Vermögen, sie zu Leben zu erwecken.
Komm, versetz dich einmal in eine meiner Rollen. Versetz dich auf Tristans Schiff, auf dem sich die irische Königstochter Isolde auf der Fahrt nach Cornwall befindet. Die Stimme des junges Seemanns verkündet ihr die baldige Ankunft. Isolde bangt vor der Landung, wird sie doch von ihrem zukünftigen Gemahl, König Marke, erwartet. Aber nicht den liebt sie. Ihre Liebe gehört Tristan. Sie wünscht sich deshalb den Untergang des Schiffes herbei. Brangäne, ihre treue Dienerin, vermag sie kaum zu beruhigen. Und zu all dieser vorweggenommenen Tragik denk dir eine Bühnenausstattung, die den Blick frei gibt auf einen durch fetzenverhangene Luken nur schwach erhellten Hinterdeckraum. Isolde ist umgeben von finsterem Gebälk, von da und dort lässig verstreuten Kissen, (...).
So habe ich mir das ausgedacht und geprobt.

Es ist schon jedes Mal ein Stück Leben, das man da dem Publikum hingibt."

(Brief von Anna Bahr-Mildenburg an Gustav Mahler)

(in Steinmüller, H. 1998, S. 42-44)